Die „neue“ Zahlungsunfähigkeit – Alternative Möglichkeiten der Feststellung gemäß § 17 InsO

Autoren: Thomas Uppenbrink und Philipp Brück

Wie definiert sich Zahlungsunfähigkeit

Die Zahlungsunfähigkeit gemäß § 17 InsO ist nicht nur ein allgemeiner Grund für die Beantragung und die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, es ist zugleich der Punkt, an dem die Insolvenzschuldnerin auch mit größtem Bemühen nicht mehr zurück kann: Das schuldnerische Unternehmen ist nicht mehr in der Lage, ihren aktuellen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen, und so wird der Berg der Verbindlichkeiten immer höher.

Keine Erhöhung der Verbindlichkeiten

Um dies zu verhindern definiert § 15a InsO eben auch eine Antragspflicht für juristische Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit im Falle einer Zahlungsunfähigkeit. Der Grund liegt auf der Hand:

Eine juristische Person oder eine Gesellschaft ohne Rechtspersönlichkeit soll nicht ihre Verbindlichkeiten weiter erhöhen und dabei von dem Umstand profitieren, dass keine natürliche Person unmittelbar mit ihrem gesamten Vermögen haftet. Der Grundsatz „Egal was kommt, ich bin ja eine GmbH“ soll hier nicht gelten.

Kommunikation der Zahlungsunfähigkeit ist schwierig

Auf der anderen Seite ist die Zahlungsunfähigkeit aber auch eine Diagnose, die ein Mandant sehr ungern hört und oft auch nicht verstehen will.

Fast immer versuchen Geschäftsführer und Gesellschafter juristischer Personen genau wie auch natürliche Personen bis zum Schluss, zumindest den Anschein zu wahren, dass sie ihren Verpflichtungen nachkommen können. Das Stigma des „Pleitegeiers“ will niemand auf sich nehmen.

Abgrenzung von lediglicher Zahlungsstockung

Schwierigkeiten bei der Feststellung einer möglicherweise bestehenden Zahlungsunfähigkeit bereitete allerdings regelmäßig die Formulierung des § 17 InsO. Denn wie genau festgestellt werden soll, dass das betroffene Unternehmen den Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann, welche Zahlungsverpflichtungen überhaupt ins Kalkül gezogen werden müssen und was dagegen gestellt werden kann, wurde nicht im Gesetz definiert.

Die Rechtsprechung musste hier also einspringen: Der Bundesgerichtshof entwickelte in seiner Grundsatzentscheidung vom 24.05.2005 (Az.: IX ZR 123 / 04) die Begriffe der Zahlungsunfähigkeit und der Zahlungsstockung und grenzte diese beiden Begriffe voneinander ab.

Berechnungsgrundlage

Nach diesem Urteil konnte die Zahlungsunfähigkeit mit Hilfe einer anzufertigenden Liquiditätsbilanz festgestellt werden. Dieser Liquiditätsplan bezieht sich auf einen 3-Wochen-Zeitraum. Zunächst einmal wurden die gegenwärtigen Vermögenswerte des Schuldners (Aktiva I) den gegenwärtig fälligen Verpflichtungen (Passiva I) gegenübergestellt, wobei nur die Verpflichtungen relevant waren, die zu dem Zeitpunkt schon tatsächlich ernsthaft eingefordert worden waren.

Es muss also zumindest eine Rechnung oder einen anderen Ausdruck des Willens des Gläubigers geben, seine Forderung geltend machen zu wollen.

Entscheidend ist die Fähigkeit, 90 % der fälligen Verbindlichkeiten zu bedienen

Sollte diese Gegenüberstellung ergeben, dass der Schuldner mehr als 10 % seiner fälligen Verpflichtungen nicht erfüllen kann, wird eine Vorschau auf die kommenden drei Wochen erstellt. Dazu werden die Vermögenswerte, über die der Schuldner nach drei Wochen voraussichtlich verfügen wird (Aktiva II) den Verpflichtungen gegenübergestellt, die in drei Wochen voraussichtlich gegen den Schuldner stehen werden (Passiva II). Sollte sich auch hier ergeben, dass der Schuldner mehr als 10 % der Verpflichtungen nicht erfüllen kann, ist dann noch zu prüfen, ob der Schuldner diese Unterdeckung innerhalb der kommenden drei Wochen anders schließen könnte, z.B. durch die Aufnahme eines Kredits.

Wenn ihm auch das nicht möglich ist, wird im letzten Schritt geprüft, ob es nicht den Gläubigern zuzumuten ist, länger auf die Erfüllung der Verbindlichkeiten zu warten, beispielsweise weil das branchenüblich ist. Erst dann, wenn auch diese Prüfung negativ ausfällt, kann mit Sicherheit von einer Zahlungsunfähigkeit ausgegangen werden.

Kritische Betrachtung der Berechnungsgrundlage

Diese Vorgaben des Bundesgerichtshofs stehen von Anfang an in der Kritik, weil sie nicht nur kompliziert zu ermitteln, sondern auch nicht ganz eindeutig sind. Insbesondere bei der Ermittlung der Aktiva II stehen Rechtsanwälte und Steuerberater immer vor der Frage, wie wahrscheinlich die „Verwirklichung“ dieser Aktiva II sein muss.

Reicht es etwa aus, wenn der Schuldner ein Angebot vorlegt, dass er einem Kunden gemacht hat und das, wenn es zum Tragen käme, die Zahlungsunfähigkeit beseitigen würde? Reicht die Erstellung einer Rechnung aus, auch wenn man nicht sicher sein kann, wann und ob überhaupt die Zahlung erfolgt? Im schlimmsten Fall wird nach erfolgreicher Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch das Gericht oder durch einen Sachverständigen festgestellt, dass die Zahlungsunfähigkeit schon lange vorlag; mit den bekannten Folgen aus § 102 StaRUG für den Beraterkreis.

Weitere Klärungsversuche scheitern

Auch das Institut der Wirtschaftsprüfer in Deutschland e.V. (IDW) konnte hier kein Licht ins Dunkel bringen. Zwar wurde mit dem IDW-Standard S 11 tatsächlich ein Standard für die Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen verabschiedet. Allerdings weicht das IDW leicht von der Lösung des Bundesgerichtshofs ab. Der laut IDW zu erstellende Finanzstatus soll sich ebenfalls über drei Wochen erstrecken, wobei hier aber an mindestens zwei Stichtagen im Abstand von drei Wochen die zur Verfügung stehenden Mittel und die fälligen Verbindlichkeiten anhand von Ein- und Auszahlungen zu bestimmen sind.

Anders als in der Berechnung des Bundesgerichtshofs werden hier aber nicht die Aktiva I und Aktiva II gegen die Passiva I und Passiva II gestellt, sondern die Liquiditätslücke am Ende des Dreiwochenzeitraums wird den fälligen Verbindlichkeiten am Stichtag gegenübergestellt. Es wird also die Summe gebildet aus der Differenz zwischen Aktiva I und Passiva I und aus der Differenz zwischen Aktiva II und Passiva II und diese wird durch die Passiva I geteilt.

Unklare Bedingungen dank abweichender Berechnungsergebnisse

Diese kleinen, aber mitunter entscheidenden Unterschiede klären die offenen Fragen nicht, sondern sorgen für weitere Verunsicherung. In einigen Fällen kam es dazu, dass ein Mandant nach den Maßstäbe des BGH zahlungsunfähig war, nach den Maßstäben des IDW jedoch nicht, oder umgekehrt. In einem solchen Fall muss sich dann der Steuerberater entscheiden, ob er eine Haftung aus § 102 StaRUG riskieren will oder später seinem Mandanten Rede und Antwort stehen muss zu der Frage, warum er zum Insolvenzantrag geraten hat.

Hinzu kommt, dass auch die IDW-Methode maßgeblich auf der Prognose der kommenden drei Wochen beruht – und dies beinhaltet die oben bereits dargestellten Unsicherheiten.

BGH schreitet erneut ein

Der Bundesgerichtshof hat diese Problematik erkannt und mit seinem Urteil vom 28.06.2022 (Az.: II ZR 112 / 21) klargestellt, dass nicht nur die Aufstellung eines Liquiditätsplans, sondern auch andere Mittel geeignet sind, eine Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 17 InsO zu belegen. Konkret hat der Bundesgerichtshof in seinem Urteil die Zahlungsunfähigkeit mit einer retrograden Methode ermittelt. Dabei werden den liquiden Mitteln am Monatsende die zu diesem Zeitpunkt fälligen Verbindlichkeiten gegenübergestellt, es ergibt sich damit ein Liquiditätsstatus des Stichtages.

Wenn dieser Liquiditätsstatus ergibt, dass der Schuldner seinen Verpflichtungen zu mehr als 10 % nicht nachkommen kann, wird im nächsten Schritt geprüft, ob es gelingen wird, in den darauf folgenden drei Wochen diese Liquiditätslücke wieder zu schließen. Wenn das nicht der Fall ist, ist eine Zahlungsunfähigkeit gegeben.

Alternativen sind nun gerichtlich zugelassen

Der Bundesgerichtshof bezieht sich in seinem Urteil wieder auf einen Finanzplan, der die kommenden drei Wochen nach dem ersten Stichtag abdeckt und der die taggenauen Einzahlungen und Auszahlungen zeigen soll und so offenbart, ob die Liquiditätslücke geschlossen werden kann.

Es wird allerdings in dem Urteil schon im Leitsatz auch deutlich gemacht, dass diese Methode nicht die einzige ist, sondern dass auch „andere Mittel“ zur Verfügung stehen sollen. Wenn man also die Unsicherheiten der dreiwöchigen Liquiditätsplanung vermeiden möchte, wird es ebenso zulässig sein, eine Liquiditätslücke in zwei aufeinanderfolgenden Wochen zu ermitteln und sodann nur noch eine Prognose für die dritte Woche zu stellen. Der Vorteil liegt auf der Hand: Anhand der zwei durch die Daten der Vergangenheit gesicherten Status ist es wesentlich leichter, die Prognose zuverlässig zu erstellen. Unverändert steht der Bundesgerichtshof allerdings zu seiner festen 10 %-Schwelle, auch wenn diese durch die neue Methode an Bedeutung verliert, weil jetzt nicht mehr verschiedene Bezugsgrößen und Zeiträume miteinander vermischt werden und so das Ergebnis verwässert wird.

Erleichterung (und Verpflichtung) für den Steuerberater

Durch diese Berechnungsmethode wird es für den Steuerberater wesentlich einfacher festzustellen, ob sein Mandant zahlungsunfähig im Sinne der Insolvenzordnung ist; und für den Mandanten wird es wesentlich einfacher, die Feststellung des Steuerberaters nachzuvollziehen. Für die Feststellung des ersten Stichtages reicht eine einfache Monats-BWA, die eventuell bereits ausweist, dass die liquiden Mittel des Mandanten nicht ausreichen werden, um alle Forderungen zu begleichen.

Wer nun von dieser BWA ausgehend einfach eine Woche später eine weitere Zwischenbilanz zieht, wird schnell sehen, wohin die Reise geht. Die Prognose der dann kommenden Woche wird somit voraussichtlich nicht mehr allzu schwer sein.

Insolvenzverwalter prüft ebenfalls retrograd

Die retrograde Methode wird insbesondere dem Insolvenzverwalter die Feststellung, wann genau eine Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist, wesentlich erleichtern. Doch auch der Steuerberater, der über alle erforderlichen Daten verfügt, ist zur Feststellung einer eventuellen Zahlungsunfähigkeit nicht mehr auf Prognosedaten (und möglicherweise „Luftschlössern“) seines Mandanten angewiesen. Die Feststellung, dass in einem Zeitraum von weniger als drei Wochen immer wieder die anstehenden Verbindlichkeiten die zur Verfügung stehende Liquidität übertrafen, verbunden mit einem kurzen Ausblick über den kommenden Zeitraum ist jetzt ausreichend. Schon zwei aufeinanderfolgende betriebswirtschaftliche Auswertungen dürften in den meisten Fällen genügen, um festzustellen, ob eine Zahlungsunfähigkeit vorliegt.

Fazit

Die Steuerberater stehen weiterhin in der Pflicht, ihre Mandanten auf das mögliche Vorliegen eines Insolvenzgrundes aufmerksam zu machen. Viel Zeit lassen darf man sich damit nicht, allein schon im Interesse des Mandanten: Über jedem zukünftigen Insolvenzverfahren schwebt das Damoklesschwert der Insolvenzverschleppung mit den bekannten kurzen Fristen aus § 15a InsO, wobei noch einmal betont werden muss, dass es nicht etwa darauf ankommt, wann der Insolvenzgrund zutage trat; es kommt darauf an, wann der Insolvenzgrund vorlag, unabhängig davon, ob dieser Insolvenzgrund tatsächlich erkannt wurde.

Der Steuerberater ist deshalb gut damit beraten, bei jedem Verdachtsfall, den er nicht selbst eindeutig klären kann, eine weitere Meinung einzuholen, allein schon aus Gründen der Haftungsminimierung.

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