Das Ende der Überschuldung für Start-ups? – zu den Leitsätzen des Urteils des OLG Düsseldorf vom 16.08.2023 (12 U 59 / 22)

Autoren: Thomas Uppenbrink & Philipp Brück

Was ist ein Start-up?

Als Start-up bezeichnet man ein neu begründetes Unternehmen, das sich in der frühen Phase der Entwicklung befindet und ein hohes Wachstumspotenzial aufweist. Kennzeichnend ist, dass das Unternehmen nur mit begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen zurechtkommen muss, dass es einen innovativen Ansatz verfolgt und dass die dahintersteckende Geschäftsidee skalierbar ist. Kurz gesagt: Ein solches Unternehmen lebt von visionären Ideen und geringem Eigenkapital.

Was ist das Problem?

Damit ist das Start-up-Unternehmen prädestiniert dafür, dass seine Bilanz einen nicht durch Eigenkapital gedeckten Fehlbetrag ausweisen wird. Denn typischerweise lebt ein Start-up nicht von eigenem Kapital, sondern von fremden Investitionen. Doch brauchen wir in Deutschland nicht gerade die innovativen Unternehmen, die mit ihren Ideen und neuen Produkten unsere Wirtschaft in Zukunft überlebensfähig machen werden? Und ist da das altehrwürdige Insolvenzrecht die Bremse der Innovation?

Was sind die Leitsätze des Urteils?

Das OLG Düsseldorf hat offensichtlich genau das gedacht, denn in seinem Urteil vom 16.08.2023 (Az. 12 U 59 / 22) hält es eindeutig und unmissverständlich fest: „Bei einem Start-Up-Unternehmen sind die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof für eine positive Fortbestehensprognose im Sinne des § 19 Abs. 2 S. 1 InsO aufgestellt hat, nicht uneingeschränkt anwendbar (…)“.

Sollte das der Anfang vom Ende der Überschuldung für Start-ups sein? In der Konsequenz: Sollten Start-ups so lange nicht insolvenzantragspflichtig sein, wie Liquidität vorhanden ist, also „solange es läuft“?

Das wäre natürlich auch eine erhebliche Erleichterung für Steuerberater, denn dann würde bei Start-ups die Hinweispflicht aus § 102 StaRUG entfallen – eine Haftungsfalle weniger in dem sowieso nicht risikoarmen Start-up-Geschäft.

Das Urteil des OLG Düsseldorf liest sich zunächst vielversprechend. Das Gericht sieht Start-up-Unternehmen in einer besonderen Situation: „Solche Unternehmen sind in einer – mehr oder weniger langen – Anfangsphase meist nicht ertragsfähig, jedoch sind in derartigen Fällen operative Geschäftschancen trotz möglicherweise derzeit fehlender Ertragskraft nicht auf Dauer ausgeschlossen“. Zumindest in Fällen von Start-ups sieht der BGH also die Ertragsfähigkeit (Selbstfinanzierung) nicht als Voraussetzung einer positiven Fortführungsprognose an. Es lege in der Natur eines solchen Unternehmens, zunächst nur Schulden zu machen und von Dritten abhängig zu sein. Der Rückgriff auf eine Ertragsfähigkeit würde diesen Unternehmen also die Überlebensfähigkeit absprechen und sie zum Marktaustritt zwingen.

Was sind die Konsequenzen?

Wer hier genauer hinsieht, wird schnell erkennen, dass der vielversprechende Beginn des Urteils sich eher als Fehlstart erweist. Auch wenn das Gericht richtigerweise erkennt, dass Start-up-Unternehmen meist nicht ertragsfähig sind und vom Geld Dritter abhängen, legt es seinen Fokus dann plötzlich eben auf genau diese Ertragsfähigkeit, also auf die Selbstfinanzierung eines solchen Unternehmens und erklärt, dass eine solche nicht vorhanden sein könnte.

Das ist ohne Zweifel richtig. Bezüglich des Gesichtspunkts der Überschuldung führt es den Leser aber in die Irre.

Was ist eine Überschuldung?

Eine Überschuldung liegt gemäß § 19 Abs. 2 S. 1 InsO dann vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Auf die Ertragsfähigkeit, also die Selbstfinanzierung des Unternehmens, kommt es für den Begriff der Überschuldung zunächst einmal gar nicht an.

Wer dem Gesetzeswortlaut folgt, wird also erst einmal feststellen müssen, ob eine rechnerische Überschuldung vorliegt. Dazu wird die entsprechende Überschuldungsbilanz erstellt, die auf der Aktivseite sämtliche Vermögenswerte mit ihren Liquidationswerten enthält und auf der Passivseite sämtliche, auch noch nicht fälligen Verbindlichkeiten. Zwei Besonderheiten sind dabei zu berücksichtigen: Möglicherweise liegt auf der Aktivseite eine (harte!) Patronatserklärung vor, denn diese ist zu den Aktiva hinzuzuzählen; auf der Passivseite ist der qualifizierte Rangrücktritt, also die Vereinbarung mit dem Gläubiger, dass dieser seine Forderung in der Unternehmenskrise nicht durchsetzen wird, gegebenenfalls als Besonderheit aufzunehmen. Die Ertragsfähigkeit des Unternehmens ist offensichtlich in der Überschuldungsbilanz kein Kriterium.

Positive Fortbestehensprognose neutralisiert Überschuldung

Wenn diese Überschuldungsbilanz nun eine Überschuldung ausweist (was im Bereich der Start-ups fast immer der Fall sein dürfte, weil diese typischerweise fremdfinanziert sind), dann stellt sich die Frage, ob die Überschuldung mit einer Prognose, dass die Fortführung des Unternehmens in den nächsten zwölf Monaten nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist, geheilt werden kann. Diese Prognose stellt zunächst einmal auf den Fortführungswillen der handelnden Personen ab und dann auf die Frage, ob das Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten zahlungsfähig sein wird. Wenn die handelnden Personen das Unternehmen also fortführen wollen (was bei einem Start-up ebenfalls fast immer der Fall sein dürfte), muss eine Prognose der Lebensfähigkeit, also grundsätzlich der Liquidität bzw. der Zahlungsfähigkeit innerhalb der nächsten zwölf Monate erstellt werden.

Erst jetzt kommt also die Ertragsfähigkeit des Unternehmens ansatzweise ins Spiel, denn die Prognose könnte ergeben, dass das Unternehmen innerhalb der kommenden zwölf Monate ertragsfähig wird. Doch selbst wenn nicht: Nach gefestigter Rechtsprechung kommt es grundsätzlich nur auf die Zahlungsfähigkeit im Prognosezeitraum an. Wenn das Start-up-Unternehmen also durch Kredite mit ausreichender Liquidität für das kommende laufende Jahr versorgt wird, ist sein Fortbestehen überwiegend wahrscheinlich (wobei überwiegend tatsächlich nur heißt, dass die Wahrscheinlichkeit nur 50 % oder mehr betragen muss). Geht diese Fortführungsprognose positiv aus, liegt keine Überschuldung gemäß § 19 InsO vor. Und gerade bei einem Start-up ist davon auszugehen, dass ein Finanzierungskonzept vorliegt und verfolgt und ständig aktualisiert wird, das mindestens einen Zeitraum von zwölf Monaten umfasst – die notwendigen Daten sollten also bereits vorhanden sein.

Was ändert das Urteil den nun überhaupt?

Doch wann kommt bei der Überschuldung denn nun auf die Ertragsfähigkeit des Unternehmens an, auf die sich das OLG Düsseldorf stützt? Die Antwort ist einfach: Gar nicht. Die Erleichterungen für Start-ups, die das OLG Düsseldorf vermeintlich mit seinem Urteil schafft, stellen sich im Nachhinein als Spiegelfechterei heraus.

Fazit

Wer weiterdenkt, stellt sich unvermeidlich die Frage: Benötigen wir überhaupt eine Insolvenzerleichterung für Start-ups? Steht die Insolvenzordnung der Entwicklung von Start-ups in Deutschland im Weg?

Die Antwort ist ein eindeutiges „Nein“. Die Insolvenzordnung soll Gläubiger schützen, und das in den Fällen, in denen Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist oder droht oder in denen eine Überschuldung ohne Heilungsmöglichkeit durch eine 12-Monats-Prognose besteht. Wenn ein Start-up zahlungsunfähig oder drohend zahlungsunfähig ist, kann es am Markt sowieso nicht existieren. Ebenso wenig wird es Erfolg haben, wenn sich im Zuge einer Fortführungsprognose herausstellt, dass in den kommenden zwölf Monaten die Liquidität ausgehen wird. Insofern erfüllt die Insolvenzordnung ihre Marktbereinigungsfunktion bei Start-ups gleichermaßen wie bei anderen Unternehmen. Das Start-up, dass sich mit ausreichenden finanziellen Mitteln (auch von Kreditgebern!) versorgt und sich so für einen absehbaren Zeitraum von zwölf Monaten finanziell solide aufstellt, das eine nachvollziehbare und realistische Finanzplanung erstellt (auch im Interesse der Kreditgeber!) und das bereit ist, diese Planungen im Zuge der Fortführungsprognose offenzulegen und von einem unabhängigen und spezialisierten Dritten überprüfen zu lassen, hat nach wie vor nichts zu befürchten und bedarf keiner Sonderbehandlung.

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